Auffangklasse
Wenn wir uns in unserer jeweiligen Muttersprache begrüßen, dann kommt eine große Sprachvielfalt dabei heraus. Wir - das sind 16 Kinder bzw. Jugendliche aus 8 Ländern und ihre Tutoren. Die zwei Schwestern aus Thailand sprechen Thai, ein Mädchen aus Brasilien spricht brasilianisch, der Junge aus Portugal portugiesisch; sie können sich in ihrer Sprache aber gut miteinander verständigen. Die zwölfjährige aus dem Iran spricht mit den zwei Jungen aus Afghanistan Farsi, ein Mädchen und fünf Jungen aus der Türkei sprechen untereinander türkisch oder Sassa, die Muttersprache der kurdischen Jungen, und mit der Tutorin deutsch spricht ein Junge aus Südafrika, der in Deutschland aufgewachsen ist. Das zwölfjährige Mädchen, dessen Muttersprache Kandahari ist, und der Junge haben niemanden in der Klasse, mit der / dem sie in ihrer Sprache sprechen können.
Alles fing klein und bilingual (türkisch und deutsch) im Sommer 1995 an, als die erste Auffangklasse (AK) an der Gesamtschule eingerichtet wurde: zwei minderjährigen türkischen Jungen, die ohne Eltern oder Verwandte nach Hamburg gekommen waren, melden sich in Begleitung eines Betreuers aus dem Heim, in dem sie wohnten, zum Schulbesuch. Sie hatten in den drei Wochen, seitdem sie im Heim untergebracht worden waren, in einem heimeigenen Kurs die ersten Worte Deutsch gelernt, und wir konnten uns bald über unsere Herkunft, unser Alter und unsere Familienverhältnisse etwas auf deutsch erzählen.
Allen in den folgenden Monaten neu hinzugekommenden SchülerInnen - denn deshalb hat die Klasse diesen Namen: Sie fängt alles auf, die während eines Schulhalbjahres eingeschult werden sollen - wurden diese Selbstauskünfte gegeben, erweitert und auch als Frage an die neu Hinzukommenden gestellt. Auch mit den deutschen MitschülerInnen des gleichen Flures sollten auf diese Weise hergestellt werden. Die speziellen Ausspracheschwierigkeiten im Deutschen, die sich aus den jeweiligen Muttersprachen ableiten lassen, boten da anfänglich - neben atmosphärischen Störungen - aber oft ein Hindernis der Verständigung.
Am Ende der AK, im Januar 1996, war die Anzahl der SchülerInnen auf 20 angewachsen. Sie sollten bis zu diesem Zeitpunkt darauf vorbereitet worden sein, in einigen wenig sprachintensiven Fächern in deutsche Klassen integriert werden zu können. Eine unrealistische Zielsetzung, wenn man sich die persönlichen und schulischen Voraussetzungen, mit denen die Kinder hier ankommen und ihre Lebenssituation in Hamburg ansieht: da sitzt eine Schülerin, die in ihrem Geburtsland bereits Englisch gelernt hat, neben einem Kind, das die lateinische Schrift weder schreiben noch lesen kann. Da kehrt ein Junge nach der Schule in ein geregeltes Familienleben zurück, während ein anderer nicht weiß, ob er heute oder morgen abgeschoben wird. Und alles, was sich an Druck, Überlastung durch neue fremde Eindrücke, Unzufriedenheit, wegen der immer wieder gemachten Erfahrung, nicht das, was man mitteilen möchte auch ausdrücken zu können, ergibt, sucht sich in den Stunden und Pausen einen nicht sprachlichen Weg des Ausdrucks: es wird in der Muttersprache geschrieb, obwohl oder gerade weil man nicht verstanden wird, es wird gerauft, gekämpft oder der Rückzug ins Schweigen angetreten; häufig der Ausdruck, den die Mädchen wählen.
Daß bei diesen Formen der Auseinandersetzungen alle beteiligt sind, auch die Tutorin und die deutschen MitschülerInnen, ist unvermeidlich. Ein Teil des Konfliktstoffes könnte vermieden werden, wenn die Zuweisung der SchülerInnen durch die Behörde nach andere Kriterien entschieden würde als der Überlegung, welche AK noch nicht "voll" ist. Wer sich mit den politischen, ethnischen, religiösen oder kulturellen Konflikten in den (Krisen-) Gebieten, aus denen die Kinder und Jugendlichen kommen, etwas beschäftigt - und das sollte man von den zuweisenden Behördenstellen erwarten können - weiß, zwischen welchen der Kindern aus welchen Ländern es "knallen" muß! Dies könnte vermieden werden. Es bedeutet genug Anstrengungen, ein Verstehen der Verhältnisse in Deutschland zu entwickeln und die Sprache zu erlernen.
Seit dem 01.02.1996 ist aus der AK eine Vorbereitungsklasse (VK) geworden. Vorbereitet werden die SchülerInnen jetzt darauf, daß sie in den deutschen Klassen am Unterricht teilnehmen können. Waren sie in der AK bereits in Sport auf verschiedene deutsche Klassen aufgeteilt, so soll jetzt die Integration fächerweise ausgebaut werden, von weniger spachintensiven Fächern, wie Musik und Kunst über Arbeitslehre und die Neigungskurse bis zur Auflösung des Klassenverbandes nach eineinhalb Jahren. Naturwissenschaften und Englisch werden, z.T. seit Beginn der AK, neben Mathematik im Klassenverband unterrichtet.
Wieviele der jetzt 16 SchülerInnen die Auflösung ihrer Klasse und die Integration in eine deutsche Klasse miterleben werden, ist nicht vorhersagbar. Abschiebung, "Rückführung", auch die Möglichkeit der ersehnten Rückkehr in das Geburtsland wegen veränderter politischer Verhältnisse lassen kein Gefühl des Endgültigen, des Sich-nieder-lassen-Könnens zu. Das Gefühl der Vorläufigkeit bestimmt latent den Alltag der SchülerInnen außerhalb und innerhalb der Schule.
Leider können die Erfahrungen, die während der Arbeit in der AK und VK gemacht wurden, nicht in in einer neuen AK bzw. VK angewendet werden. Die Gesamtschule Steilshoop hat zum Schuljahr 1996 kleine neue AK einrichten können; es gibt zu wenig neue Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren in Hamburg, als daß eine Klasse für Steilshoop zustande gekommen wäre. So sagt die Behörde. Das mag eine Folge der Erschwerung des Zuzugs und der verschärften Asylgesetzgebung sein. Für mich als Tutorin bedeutet es den Abschied von dem Erleben, wie offen, warmherzig, lebendig, bis überanstrengend, kreativ aus der Notwendigkeit heraus, sich ohne Sprache oder mit wenig deutschen Sprachkenntnissen zu vermitteln, Kinder und Jugendlichen selbst im Rahmen der Schule sein können.
Also: zum Glück noch nicht "AUF WIEDERSEHEN!"